Aris Kalaizis

Himmelmacher. Eine erste Erzählung nach einem Aris Kalaizis-Gemälde

Der in der Sch­weiz geborene und in New York lebenden Autor Chris­toph Keller gre­ift mit ein­er ersten Story zu dem in Leipzig entstanden­en Aris Kala­izis – Bild "Him­mel­mach­er" (2009) die Absurdität des Gemäldes auf und über­führt diese in eine lit­er­ar­ische Welt

Aris Kalaizis | Himmelmacher | Öl auf Leinwand | 190 x 210 cm | 2008
Aris Kalaizis | Himmelmacher | Öl auf Leinwand | 190 x 210 cm | 2008

Er hatte noch nicht ein­mal den Tisch gedeckt und jet­zt das.
“Hast du das ver­ursacht?” Der Engel stand auf dem Tisch wie eine unber­ührte Mahlzeit.
“Fragst du mich das?”


Der Riss in der Fab­rik­decke war vor einem Augen­blick noch nicht dagewesen. Die Fab­rik auch nicht. Auch der Engel nicht. Oder er sel­ber. Er schaute sich um. Es war unwahr­schein­lich, dass er in ein­er ver­lassen­en Fab­rik Geschirr, Besteck und Ser­vi­etten­ringe find­en würde. Der Riss in der Decke wuchs und wuchs. Oder war es der Him­mel? Möchte man nicht in etwas leben, das sich aus­dehnt?, wun­derte er sich.


“Möchte man nicht”, sagte der Engel bestim­mt. “Aber was kann man schon tun?” “Kochen”, sagte er ver­loren. “Das Abendessen. Es ist tat­säch­lich so, dass ich ein wenig in Eile bin.” Schliess­lich schaute der Engel doch noch hoch. Augen­blick­lich hörte der Him­mel – oder war es das Loch in der Decke? – auf, sich aus­zudehnen. “Das ist doch hüb­sch, nicht?”, fragte sie. Seine Tochter würde ihn für eine olle Frage wie diese von den Toten erweck­en. Klaro, Paps, natür­lich ist es hüb­sch. Es ist der Him­mel! “War­um?”, plap­perte der Engel. “Weil”, sagte er kindisch. “Weil was?” “Weil es der Him­mel ist. Und ein paar Wolken.” Sie nickte. Die Ant­wort schi­en sie zufrieden­zus­tel­len. Er stell­te fest, dass die Flü­gel, die sie trug, schmutzig und abgetra­gen waren.


Viel­leicht war sie ein sch­lam­pi­ger Engel. Es musste fürchter­lich müh­sam sein, diese Federdinger sauber zu hal­ten. Vögel tuns. Bien­en nicht. Das ein­zige Mal, dass er ein Mäd­chen mit Flü­geln gese­hen hatte, war hinter der Bühne. Er kon­nte nicht sagen, es habe seine Welt erschüt­tert. Wenige Mon­ate später war er Teil des Teams, welches das Theat­er abriss. Manch­mal nahm er sich frei, um für seine alte Baufirma zu arbeiten.


“Hast du deshalb das Loch ver­ursacht?”, fragte sie. “Um mir den Him­mel zu zeigen?”

Sie schi­en ver­le­gen. Er sah es an der Art, wie sie leicht flat­terte. Wer­den Engel befan­gen, wenn man an ihre Flü­gel den­kt? Kühle Luft mit einem Hauch von Beton­staub wehte ihm zu. Das Bild der Engels­flü­gel, gefan­gen in einem ein­stürzenden Gebäude, ver­flüchtigte sich nicht. “Gesund­heit”, sagte sie, gerade bevor er das Krib­beln in sein­er Nase mit einem lauten Niesen loswurde.


“Danke.” Er star­rte seine Schuhe an, auf den­en sich eine Schicht Beton­staub ansam­melte. All­mäh­lich färb­ten sie sich weiss. Erst kürz­lich hatte er sich den Kopf rasiert, doch das Schuldge­fühl ging nicht weg. Er ver­suchte es jet­zt mit einem Bart. “Es tut mir leid. Small Talk liegt mir nicht.” “Small Talk?”, wieder­holte er. Nun war er wirk­lich ver­är­gert. Er ber­ührte sein­en Schädel. Der Drang, den Tisch zu deck­en, ver­ging nicht.“Na gut. Also, ich geb kein­en Sche­iss drauf, ob es ein Loch in der Decke hat oder nicht. Es ist nicht meine Decke. Viel­leicht hab ich den Schaden ja ver­ursacht. Viel­leicht war das Loch da seit Anbe­ginn der Zeit. Ehr­lich gesagt weiss ich nicht ein­mal, wo ich bin.”


Sie lächelte. “Das macht zwei von uns.” “Das ist gut. Gute Unter­hal­tung. Liegt dir sehr wohl.” “Ich passé mich an. Es heisst, man tue das immer. Sch­lag deine Flü­gel und … du weisst schon.” “Danke”, sagte er. Das Gerede von Him­mel und Flü­geln machte ihn nervös. Er woll­te, dass sie blieb. “Wie heisst du eigent­lich?” “Angelina.” Sie errötete. Er kon­nte seine Enttäuschung nicht ver­ber­gen. Ander­er­seits wählte niemand sein­en Namen sel­ber aus.

“Ein schön­er Name”, sagte er. “Aber alle nennen mich Lina.” “Klar”, sagte er. “Lina, die durch die Him­mel fällt.” Wieder dachte er an die vielen Gebäude, die er zum Ein­sturz geb­racht hatte. Er war mit dem Besitzer der Baufirma befre­un­det. Dieser hatte ihn ignor­iert, als er gan­zzeit­ig für ihn gearbeitet hatte, doch als der Erfolg kam, bot ihm der Besitzer seine Fre­und­schaft an – und die Gele­gen­heit, ein Gebäude ein­stürzen zu lassen, wenn ihm danach war. “Sag mir, wann immer du Wände nieder­re­is­sen, Böden auf­brechen, Deck­en einkrachen lassen willst. Sag mir, sobald dir wieder zum ‘Him­mel­machen’ zumute ist.”


“Es gibt mehr als ein­en Him­mel?”, fragte er ver­unsich­ert. Die Frage schwebte durch die Luft, bevor er merkte, dass es eine weit­ere Klaro-Paps-Frage war. “Klaro”, sagte Lina und das wars. “Und Dein­er?” “Mein­er was?” “Name.” “Pen­tagrass”, sagte er und fügte hin­zu, “fürs Erste.” Er wusste auch nicht, wo dieser Name herkam. “Du bist dir nicht sich­er?” “Ehr­lich gesagt … kann ich mich dir anver­trauen?” “Bin ich nicht deshalb hier?” Plötz­lich klang Lina ver­är­gert. “Weisst du, ich hab es bis hier oben mit aller Leute Geheimnisse!”Sie hielt die Hand an ihr Kinn. Diese warf ein­en Schat­ten auf ihre linke Brust. “Ich fühl mich an, als sei ich voller Sche­isse, weisst du.” Er lachte, hielt dann inne. “Oft aber ver­trauen wir uns der falschen Per­son an, and das macht uns ganz elend …” “Ich mach dich schon nicht elend”, unter­brach sie ihn. “Ich ver­spreche es. Kaum habe ich meine Augen geschlossen, sind alle Bek­en­nt­n­isse weg. Heisst, sie sind schon noch da, in mir …” – sie piek­ste ihren Fin­ger in ihren Nabel – “und manch­mal fühl ich mich …” “Ver­stopft”, half ihr Pen­tagrass aus.


Lina star­rte ihn kurz an und lachte dann los. Sie lachte klar und durch­schein­end wie eine Wolke. Es gibt nichts Schöneres, als sich über ein­en Kacka-Witz näh­er zu kom­men. Dann ers­chrak er. “Was ist, lieber Pen­tagrass?” Sie flat­terte näh­er. “Ach, du willst sie ber­ühren? Alle wollen das. Deshalb sind sie so abgetra­gen. Du hast auch gefragt, als ich dich das let­zte Mal besucht habe. Du fragst jedes Mal.” “Wirk­lich? Jedes Mal?” An Stelle ein­er Ant­wort flat­terte Lina mit den Flü­geln. Für eine Sekunde oder gar weni­ger schwebte sie über den noch immer nicht gedeck­ten Tisch. Zeit genug für Pen­tagrass, sie zu ber­ühren. Sie fühl­ten sich fed­rig an, so wie sich Fed­ern anfüh­len soll­ten. Und Lina lächelte. Und der Him­mel stürzte ein. Alle Sor­gen der Welt ver­di­chteten sich auf ein­en Punkt. O Gewicht seines Ver­standes! Sein Ver­stand stürzte ein, nicht der Him­mel. O Her­r­lich­keit, o Verz­wei­flung! Es fühlte sich so alb­traum­haft an, weil es so ver­traut war. Es geschah jedes Mal.


“Du hast Wasser in den Augen”, sagte Lina. “Es ist nichts … nichts.” Doch Pen­tagrass ver­mochte die Trän­en nicht zurück­zuhal­ten. Als wolle er dem Engel zei­gen, was Trän­en war­en. Ein Trän­en­fluss, ein Verz­wei­flungsstrom, ein Qualen­meer. Alles kam und ging in Wel­len. Sche­iss auf die Wasser­meta­phern, dachte er. Selb­stana­lyt­isch zu sein half ihm, mit dem Heulen aufzuhören. “Mein Darling”, sagte Lina. Ein zärt­liches Flü­gelsch­la­gen – ein zärt­lich­er Wind –, und sie flat­terte neben ihm, am Rand des Tisches, und drückte ihren Bauch gegen sein Gesicht. Eigen­artig, doch er kon­nte ihren fah­len Po noch immer im Spiegel sehen. Trän­engesät­tigt klam­merte er sich an sie. In sein­en Armen fühlte sie sich zwei­di­men­sion­al an. “Du hast ja keine Ahnung, wor­um es sich dre­ht”, sagte sie, sich sein­en Verz­wei­flung­ston aneign­end. “Du weisst nicht, weshalb. Du weisst nicht weshalb du tust, was du tust. Schlim­mer noch, du weisst nicht ein­mal, wie du es tust.” “Nein”, sagte er, “ich weiss es nicht.” Sie löste sich aus seinem Griff. Seine muskulösen Armen ersch­lafften. Ihre Flü­gel gewannen an Kraft. Kühle Luft wehte ihm zu, dies­mal ohne den schalen Geschmack eines Baus, der hochgezo­gen oder abgeris­sen wurde. “Das fühlt sich gut an”, sagte er.


Es schi­en schwi­erig zu sein, mit den Flü­geln zu flat­tern und nicht weg­zu­flie­gen. Lina tat ihr bestes, stieg nur gerade ein paar Zen­ti­meter hoch. “Ich bin froh, Pen­tagrass.” Er kon­nte sich nicht beherrschen, riss sie noch ein­mal an sich und umarmte sie. Ihr Po war da, sie war solide dreidi­men­sion­al, und doch bewegte sich der Po im Spiegel nicht. Rasch küsste er ihren Nabel, doch ver­änderte das die Welt nicht. Er fühlte sich an, als sei er bereits geküsst worden. Während der Zeit, die ein Engel benötigt, ein­en Raum zu durchquer­en, ver- und entliebte er sich. Lina schaute durch das Loch in der Decke, als packe sie die Sehn­sucht, weg­zu­flie­gen. Ein Wolkenschwarm zog über den Him­mel und begann, die Decke zu schliessen. “Bleib”, sagte er. Für immer, dachte er. “Ich kann schon für immer bleiben”, sagte sie und freute sich an den Hoffnungs­funken in sein­en Augen. “Doch wer kön­nte mit so viel Glück­se­ligkeit leben?” Lina bewegte ihre Flü­gel so lang­sam wie mög­lich, um ihm Extrazeit zu geben. Viel­leicht war er ein­er ihr­er Lieblinge. Der Him­mel wider­sprach und ver­schwand rasch. “Was für eine Botschaft woll­test du mir denn brin­g­en?” Er hatte das Gefühl, dies bereits früh­er gefragt zu haben. Aus dem Nichts erschi­en ein Stapel Tell­er auf dem Tisch. Lina lachte. “Ich bin mit kein­er Botschaft gekom­men. Ich dachte, du hät­test mir etwas zu sagen. Ver­giss nicht, du hast mich gerufen.” “Habe ich das …?” “Du hast wirk­lich keine Ahnung. So voller Tal­ent, so voller Sche­isse …” “Du hin­ter­lässt mich jedes­mal so durchein­ander … so dep­rimiert … weisst du, wieviele Male ich mich schon bei­nah umge­b­racht hätte?” Sie dre­hte sich um, und für ein­en Augen­blick betrachteten beide die Hal­b­monde ihres Pos im Spiegel. Gleichzeit­ig sah er, wie die Haut ihres echt­en Pos dün­ner wurde. Ven­en und Mus­keln und Ner­ven frassen sich ins Freie, Blut strömte san­ft an ihren Bein­en hin­ab. “Schau dir an, was mit mir geschieht!”, erwiderte sie, während sich eine pur­pur­rote Lache um ihre Füsse bil­dete. “Doch du bist derjenige, der jam­mert!” Sie hielt inne. “Immer­hin erin­nerst du dich schliess­lich doch noch an mich. Wie immer: am Ende. Was soll ich denn noch tun? Ich krachte durch die Decke,ich ent­blösste meine Seele, öffnete die Him­mel für dich – wirst du dich viel­leicht näch­stes Mal gleich an mich erin­nern? Das ist alles, was ich will, Pen­tagrass! Oder ist selbst das zu viel ver­langt?” Dieses spöt­tische Lachen! “Bitte komm wieder”, sagte er, während sie wie eine beliebige Madonna über dem Tisch schwebte. Dann war sie weg.


Pen­tagrass kam es vor, als habe sich die Decke geschlossen, bevor sie weg war. Dann aber ver­lang­samte sich wieder alles. Erneut schaute er sich um. Der Abglanz ihres Pos strahlte noch immer aus dem Spiegel. Er erwar­tete, dass er auch ver­schwinde, doch tat er es nicht. Statt dessen wur­den die Strings ihres Tan­gas sicht­bar und organ­is­ier­ten den Raum. So ein­fach, dachte er. Drei Lini­en und ein Dreieck inner­halb des Kre­ises des Spiegels. Weshalb hatte er das nicht früh­er gese­hen? Für eine Weile stand er nur da. Es war get­an. Der Kampf war vorbei, dachte er im Bewusst­sein, dass der wahre Kampf jet­zt beginnen würde. Weshalb auch woll­te er stets mehr? Weshalb stets noch eins? Weshalb war es nie vorbei? Es traf ihn hart, wie immer. Laugte ihn aus, sog ihn aus und drängte ihn an den Abgrund. Er wusste, dass es ein­zig wegen sein­er Frau und sein­er Tochter war, dass er nicht sprang. Koch jet­zt ein­fach, Kumpel, sagte er sich. Geh wandern, ruh dich aus. Geh in die Pilze. Kauf ein­en Lieges­tuhl. Stumm rein­igte er den Tisch. Er ver­suchte, sich nicht darüber zu wun­dern, weshalb darauf eine Blut­lache lag. Während er das Besteck hin­legte, ver­schwand die Fab­rik. Neben das Mess­er sein­er Frau, dann jenes sein­er Tochter, legte er jew­eils eine Schwan­en­fed­er. Dann eilte er in die Küche, um nach dem Lamm zu sehen. Am Mor­gen, als er für die fei­er­liche Mahlzeit Pilze pflück­en ging, stiess er auf ein­en Wurzel­stock von der Grösse des Schuhs eines Riesen, den Blitz und Donner.


Am näch­sten Tag würde er ihn holen und in ihr Wohnzi­m­mer stel­len. Ameis­en und Käfer würden mit ihnen ein­ziehen. Der Wurzel­stock würde das erste Ele­ment seines näch­sten Werkes wer­den. “Ich mag dein neues Gemälde sehr”, sagte seine Frau, set­zte sich an den Tisch und begann zu essen. Dann fügte sie scherzhaft hin­zu: “Fast so sehr wie dein Kochen. Ich liebe das Lamm blutig – nicht zu trock­en, nicht zu griech­isch.” “Ihr Po schaut aus wie mein­er, Paps”, sagte seine Tochter. Er nickte. Dann schüt­telte er den Kopf. Wie so oft bei ihr wusste er nicht, ob das eine gute oder eine schlechte Sache war.

Christoph Keller in seiner Wohnung (NYC, 2007)
Christoph Keller in seiner Wohnung (NYC, 2007)

(Quelle: Mono­grafie Aris Kala­izis 'Making Sky', dt./engl., Hirmer-Vg. München, 2009, ISBN 978−3−7774−9065−6)


©2008 Chris­toph Keller | Aris Kalaizis

Chris­toph Keller, geboren 1963 in St. Gal­len, ist der Autor mehr­er­er Romane, Essays und Theat­er­stücke, zulet­zt die Erzählung “A Few Famil­i­ar Things” (2003), der auto­bi­o­grafis­che Roman “Der beste Tän­zer” (2003), das Stück “Die Stif­tung” (2004) sow­ie die Fotoauss­tel­lung “Eye Catch­er” (New York, 2006). Im Früh­jahr 2008 erschi­en “Der Stand der let­zten Dinge”, der dritte Roman, den er zusam­men mit Hein­rich Kuhn als Keller+Kuhn ver­öf­fent­licht hat. Er lebt mit sein­er Frau, der Lyriker­in Jan Heller Levi, in St. Gal­len und New York.

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