Aris Kalaizis

Wo die Schatten wohnen

Die New York­er Kun­sthis­toriker­in Car­ol Strick­land prägte 2006 erst­mals den Begriff des Sot­toreal­is­mus. In diesem Essay gibt sie Erklärungen zu mehr­er­en Bildern des Neue Leipzi­ger Schule Malers Aris Kalaizis.

‚Zwis­chen der Idee
Und der Realität
Zwis­cher der Bewegung
Und der Tat
Fällt der Schatten.’


Als habe T.S. Eli­ott in seinem Gedi­cht ‚The Hol­low Man’ die neuesten Bilder von Aris Kala­izis, ihre Wirkun­gen und ihre Meister­schaft in Worte fassen wollen. Die Ima­gin­a­tion­en des Malers bewe­gen sich tat­säch­lich stets in dieser dif­fusen Zwis­chen­welt von Fiktion und Real­ität, zwis­chen Bewe­gung und Ers­tar­rung, seine Bilder schillern zwis­chen Vor­stel­lung und Wirk­lich­keit, und immer fällt zwis­chen die Polar­itäten der Schatten.


Get­tersby (2007) ver­an­schau­licht das Phäno­men. Auf der linken Seite tritt ein zerzauster Mann aus einem erleuchteten Flur, Sym­bol geban­nter Bewe­gung, ents­prungen der all­täg­lichen Welt des gestressten Beruf­spend­lers, der sich bee­ilt, sein­en Zug zu erwis­chen. Kala­izis aber mis­cht in diese im Grunde banale Szene etwas selt­sam Bizarres, die Sil­hou­ette eines ruhig dastehenden Mannes hinter ein­er Art Gaze, durch­flutet von grellem, ros­a­farben­en Licht. Die sche­men­hafte Erschein­ung ver­bind­et förm­lich beide Fig­uren, bil­det eine sicht­bare Kor­rel­a­tion durch die ‚Ber­ührung’ ihr­er angewinkel­ten Arme.


Die Schat­ten­fig­ur wie­der­um wird teil­weise über­deckt von Kalaizis' Marken­zeichen, einem Graf­fiti, das eben­falls Dop­pel­bödiges in sich trägt. Zum ein­en ist der hinge­sprühte Umriss ein­er Blume oder eines Schmet­ter­ling ein Akt indi­vidu­el­len Aus­druckes, jedoch auch ein Sym­bol natür­lich­er Schön­heit. Ander­er­seits verkör­pern die Lini­en ein­en aggress­iven Ein­griff, der die Rein­heit ein­er Wand ents­tellt. Dieses Schwanken zwis­chen den Polar­itäten, dieses ständige Für-und-Wider prä­gen das Ges­amt­werk des deutsch-griech­is­chen Künst­lers. Nichts ist nur das eine oder das andere. Jede Her­vor­brin­g­ung ruft sein Gegen­teil her­vor. Eine Hegel­sche Syn­these gibt es hinge­gen nie, stets aber ein­en Dia­log zwis­chen den Polaritäten.
Kala­izis wen­det sich gegen die Manip­u­la­tion durch die omni­präsen­ten Audi­oguides, die heutzutage wie Kletten an den Ohren von Museums­besuch­ern kleben. Er den­kt lieber mit dem eigen­en Kopf und freut sich ents­prechend, wenn er den Besuch­ern Anreiz bietet, gleiches zu tun. Aber er will es Ihnen nicht zu ein­fach machen, weshalb er unter ander­em sein­en Gemälden oft­mals sinnlose Titel ver­lei­ht, mit erfunden­en Namen wie Get­tersby oder Psemata, die kein­er­lei Hin­weis oder sprach­lichen Zugang zur Bedeu­tung des Kunstwerkes eröffnen.

Aris Kalaizis | Bahren | Öl auf Leinwand | 160 x 200 cm | 2007
Aris Kalaizis | Bahren | Öl auf Leinwand | 160 x 200 cm | 2007

Was wie eine bewusste Ver­schleier­ung aus­se­hen mag, stellt eine Heraus­for­der­ung dar – so ver­führ­erisch, dass man sich ihr nicht ent­ziehen kann. In der Kom­bin­at­or­ik des schein­bar Nor­malen mit dem offensicht­lich Anor­malen, packt er den Betrachter und zieht ihn ins Bildges­chehen. Die Szen­en schweben zwis­chen Bekan­ntem und Unbekan­ntem, und sie sind so mys­ter­iös, dass es unmög­lich ist, dem Drang zu wider­stehen, die Hin­weise entschlüs­seln zu wollen und eine Erklärung zu finden.
Immer wieder jedoch durch­kreuzt Kala­izis das Bedür­fnis nach Klärung. Egal wie gewis­sen­haft man die Teile ein­sam­melt, man wird nie ein befriedi­gendes Mosa­ik mit einem eindeut­i­gen Bild zusam­men­stel­len können. Die Bedeu­tun­gen sind vielschichtig und in dauerndem Wan­del begriffen. 


Ein wei­t­eres Beis­piel ist Bahren (2007). Eine Frau mit unbeteiligtem Gesicht­saus­druck steht in einem Teich; voll­ständig bekleidet bis auf die leicht geöffnete Bluse, die den Blick freigibt auf ihre Brüste. Sofort sind wir in Kala­izis’ Ter­rain, in dem dieses teils ver­schlei­ernde, teils enthül­lende Motiv eines sein­er bevorzugten Anord­nun­gen ist. Das umgebende Wasser ist dunkel, doch sie wird von den Schein­wer­ferkegeln des hinter ihr stehenden Autos angestrahlt, die sie wie die Stäbe eines Käfigs einzwingen. 


Am Ufer steht neben dem Wagen ein Mann, der sein­en Blick abwesend in die Ferne streifen lässt. Es fin­d­et sich kein direk­ter Hin­weis auf eine emo­tionale Ver­bindung zwis­chen den beiden. Dass das Auto nachts an sol­ch einem abgeschieden­en Ort steht, ver­leitet ein­en jedoch eher zur Annahme ein­er erot­ischen Kon­stel­la­tion. Die Kerzen­dolden der Kastan­i­en­bäume stehen wie erigierte Phalli und unter­streichen die sexuell geladene Stim­mung. In eine nahestehende Birke ger­itzte Ini­tialen geben mög­liche Hin­weise auf die zurück­lie­gende Anwesen­heit ander­er Liebespaare; während sich weit­er unten am Baum ein wei­t­eres in die Rinde ger­itztes Bild befin­d­et, das an ein­en umgedre­ht­en Toten­kopf erinnert. 
Das Paar, das nicht mitein­ander ver­bunden, son­dern vonein­ander gelöst scheint, ist umgeben vom üppi­gen Grün der Natur, womit die Ster­il­ität ihr­er Nicht-Bez­iehung dann erst recht kon­trastiert. Im Hin­ter­grund bricht Licht durch dunkle Wolken, ungewiss bleibt aber, ob es das Licht der Mor­gendäm­mer­ung oder das des hinsch­windenden Tages ist. Bahren deutet eine kom­plexe Erzählung an, legt sich aber nicht mit einem schlüssigen ‚Text’fest. Es ist wie das Yin und Yang sich per­man­ent durch­drin­gender und zwis­chengeschal­teter Erzählun­gen. Viel ist sicht­bar in der Geschichte dieser zwei Menschen, viel mehr jedoch ver­weilt im Verborgenen.


…das Nor­male wird mit dem Anor­malen ver­s­chränkt und somit Span­nun­gen und Kon­f­likte erzeugt


The Green Room (2007) zeigt wie aufge­laden der Raum zwis­chen Fig­uren sow­ie Fig­uren und ihr­er Umge­bung sein kann. Eine erwach­sene Frau steht nackt auf der ein­en Seite, umhüllt von ein­er Glas­ur grün­er Farbe und umrah­mt von ver­tikalen und hori­zontalen Lini­en, aus­druck­slos, wie eine Puppe in ein­er Ges­chen­k­ver­pack­ung, passiv und regungslos wie eine Statue. Auf der recht­en Seite steht ein wei­t­eres von Kala­izis bevorzugtes Motiv, der Dop­pel­gänger. Ein junges, fast nacktes Mäd­chen steht und hält die Hand ihres Doubles. 
Eine der Fig­uren schaut in Rich­tung der Erwach­sen­en, als ahne sie ihre eigene Reife voraus, während die andere hin­unter und zur Seite blickt, als sehe sie zurück in die Kind­heit. Man fühlt, dass das Mäd­chen an der Schwelle des Erwachens ihr­er Sexu­al­ität steht, hier mit dem Wun­sch, in die Welt der Erwach­sen­en ein­zutre­ten, dort an der Unschuld der Ver­gan­gen­heit festklammernd.
Obwohl das Kind und die Erwach­sene räum­lich vonein­ander getrennt und ohne Augen­kon­takt stehen, ver­bind­et Kala­izis sie durch bild­liche Mit­tel: ein abstrak­ter, schwar­z­farben­er Pin­sel­strich formt eine geschwun­gene Gegen­be­we­gung zum ver­schnörkel­ten Leder­sofa, das sich zwis­chen dem Mäd­chen und der Frau befin­d­et. Eine goldene Farb­linie begin­nt bei der Frau und entwick­elt sich, während sie sich bis zur Schul­ter der Dop­pel­gän­ger­in hin­zieht, von ein­er Geraden zu ein­er Krüm­mung. Beide Fig­uren sind in dasselbe unheim­liche grüne Licht getaucht. Dem Betrachter bleibt es über­lassen, die Leer­stel­len zu füllen.

The Green Room | Öl auf Leinwand | 160 x 200 cm | 2007
The Green Room | Öl auf Leinwand | 160 x 200 cm | 2007

Dieses Behar­ren auf ein­er ‚do-it-yourself’-Interpretation ist ganz zen­t­ral für Kala­izis Her­ange­hens­weise. Als wün­sche er sich, dass der Betrachter über den Bildern ebenso brütet wie er bei der Kom­pos­i­tion des Werkes. Der Entstehung­s­prozess sein­er Bilder wurde schon öfters geschildert: wie das plötz­liche Auftauchen ein­er Vor­stel­lung, aus­ge­hend von ein­er beo­bachteten Land­schaft oder einem bestim­mten Ort ihn in den Bann zieht; wie er zun­ächst diese unausgere­iften Szen­er­i­en foto­grafiert und sie buch­stäb­lich über seinem Bett plat­ziert, um dann für Wochen und Mon­ate dav­on zu träu­men, bis sich vor seinem inner­en Auge all­mäh­lich eine Bühne entwick­elt. Diesen Ort der Hand­lung bevölkert er mit nur den abso­lut not­wendi­gen Fig­uren und Details, die er für das Über­mit­teln der Stim­mung des Ortes als essen­ti­ell ansieht.


Obwohl sich seine Kun­st­fer­tigkeit in ein­er akribis­chen Tech­nik aus­drückt und er illu­sion­istische Szen­en mit vir­tu­oser Präzi­sion malt, treibt ihn dazu keineswegs der Drang, Real­ität nachah­men zu wollen. Das Szenario ist ledig­lich Aus­gang­spunkt für seine dav­on­flie­gende Fantas­ie in die Höhen der Ima­gin­a­tion aber auch in die Untiefen des Unbe­wussten, wo Schreck­en und Äng­ste zuhause sind. Ohne Zweifel ver­mit­teln seine Bilder deshalb so oft Bed­roh­liches wie den kal­ten Hauch des nicht mehr Erklärlichen.


Es ist gefähr­lich, ein her­unter­fal­lendes Mess­er fan­gen zu wollen, doch genau das ist es, was Kala­izis beständig untern­im­mt, wenn er bild­lich das Nor­male mit dem Anor­malen ver­s­chränkt und dam­it Span­nun­gen und Kon­f­likte erzeugt. Das Ergeb­nis ist immer ungewiss. Den­noch ist es gerade diese Unschlüssigkeit, die ein­en immer wieder packt und die intens­ive Betrach­tung sein­er Werke so lohnenswert macht.


…wie die Essenz eines Dra­mas – von Kon­f­likten, Wider­sprüchen und Gegensätzen


Ein weit­er­er Autor, dessen Schriften diese Sens­ib­il­ität teilen, ist der brit­ische Dram­atiker Har­old Pinter. Seine Stücke sind so vielfältig und schwer fass­bar, dass sie Anlass für das Adjekt­iv ‚Pinteresque’gaben – definiert als ‚erfüllt von dunklen Hin­weis­en und bedeu­tungsschwer­en Anre­gun­gen, mit Zuschauern, die im Ungewis­sen darüber gelassen wer­den, zu wel­chem Schluss sie kom­men sollen’. 
Dasselbe gilt für Kala­izis Arbeit "Der dop­pelte Mann" (2007). In einem däm­m­ri­gen Raum steht ein Mann (ein Selb­st­por­trait des Künst­lers) im Hin­ter­grund zwis­chen den geöffneten Flü­geln ein­er Dop­peltür unter ein­er hel­len Hän­gelampe, bind­et sich seine Krawatte und schaut nach oben. Auf der vorder­en Seite der Flü­geltür taucht das Alter Ego des Künst­lers auf, als hal­b­bekleidete, fresken­haft aus­ge­führte Fig­ur, die sich der realen Kom­pos­i­tion wider­set­zt, erhöht auf ein­er Art Pod­est stehend. Die gleich­sam schwebende Fläche allerd­ings ver­weist auf die bekleidete Fig­ur im linken Bild­bereich und stellt eine Ver­bindung zu seinem Schat­ten her. Die dämon­isch anmutende vordere Fig­ur beugt sich vor, den Blick nach unten gerichtet, und lässt ein­en weit­er­en Gegensatz zur aufrecht stehenden und entspan­nt wirkenden hinter­en Fig­ur entstehen. Der Dop­pel­gänger hält wie im Wurf eine schwere Tasche oder ein­en Kof­fer bed­roh­lich über seinem Kopf, während hinter ihm ein kolossaler, grober Schat­ten lauert, wie eine Atlas-Statue, das Gewicht der Erde auf den Schul­tern tragend.


Das Ensemble ver­mit­telt die phys­is­chen und seel­is­chen Seiten der Mensch­heit, mit all ihren wider­sprechenden Merk­malen, Gewis­sheit und Ver­wir­rung, Extro- und Intro­ver­tier­theit, Gesel­ligkeit und Ein­samkeit, Freud und Leid, Licht und Dunkel­heit. Sowohl die Schat­ten und Fig­uren als auch die Zwis­chen­räume haben für Kala­izis die gleiche for­m­ale Wer­tigkeit. Das Bild scheint frei von Fol­ger­ungen und erfüllt von Mög­lich­keiten. Wie die Essenz eines Dra­mas erzählt es von Kon­f­likten, Wider­sprüchen und Gegensätzen.

Die Ver­bün­deten (2007) zeigt, wie Kala­izis künst­lerische Tech­nik­en dazu ben­utzt, das Auge zwis­chen den Wendun­gen und Umwe­gen sein­er visuel­len Sprache hin und her zu schick­en. Die sich über­schneidenden, geraden und gekrüm­mten Lini­en führen den Betrachter unter die Ober­fläche des Bildes, wie eine Karte zum ver­borgen­en Schatz sein­er Bedeu­tung. Gleichzeit­ig unter­min­iert jedoch die Ober­fläche jeden lin­ear­en Ablauf, sie ver­dre­ht den Plan im Geiste, verkehrt das, was man zu wis­sen glaubt ins Ungewisse und Uner­gründ­liche. Der Pfad der Aufklärung ist nie geradlinig, sein Weg driftet auf der Suche nach dem Sinn immer wieder in düstere Gefilde und die Welt der Schat­ten ab.


In diesem Bild richtet der Künst­ler ein­en harten Licht­spot auf sein­en erhoben­en Kopf, so als suche er den eigen­en Zugang zu Erleuch­tung. Hinter ihm befind­en sich zwei ein­zeln stehende Fig­uren in mehrdeut­i­gen Körper­hal­tun­gen. Ein Mann mit Jacke und Son­nebrille betrachtet die Wand ein­er grell erleuchteten Liftkabine, abge­wandt von ein­er Frau, die ihre Hände wie zum Fle­hen aus­gestreckt und die Augen nach unten gerichtet hat. Sie ist im Gegensatz zum Mann nur spär­lich bekleidet, ihr Gesicht teil­nahmslos, und doch drückt ihre Kop­fnei­gung Traurigkeit aus, ein Fle­hen, das an ihr­em Mit­fahr­er völ­lig vorbei­ge­ht. Die geraden Lini­en der Liftkabine hal­ten beide Per­son­en umfasst. Sie spiegelt sich im Hin­ter­grund, während der Mann – ohne sicht­bare Logik – kein Spiegel­b­ild besitzt, als sei er unsichtbar.


…Mis­sion: Eigen­ständiges Den­ken, um in ein­en Dia­log mit der Lein­wand zu treten.


Wie der eng­lische Maler Fran­cis Bacon ben­utzt auch Kala­izis die Architek­tur ein­er Szene als Mit­tel – Form fol­gt der Funk­tion. Auf bek­lem­mende und bed­roh­liche Weise wirken seine Lini­en, als hiel­ten sie die mensch­lichen Wesen, die den Raum bevölkern, in Schach. Inner­halb des gemein­samen Raumes muten die Fig­uren stat­isch an, mel­an­chol­isch, ver­ängstigt und erschöpft. Es existiert keine unmit­tel­bare Kom­munika­tion zwis­chen ihnen, als ver­har­rten sie fest in jew­eils getrennten Sphären und Koordin­aten. Obwohl die meisten Bilder eine wider­spen­stige, psy­cho­lo­gisch angespan­nte Atmo­sphäre erzeu­gen, ver­schlei­ern sie jew­eils die Ursache und das Res­ultat der aufge­laden­en Situation.


Am Mor­gen danach (2006) stellt fast die Eröffnungsszene eines Krimis nach– oder einem im Wachzus­tand fort­be­stehenden Alptraum. Ein Mäd­chen, in Unter­wäsche bekleidet, hält sich an ein­er Frau fest, ver­mut­lich ihr­er Mut­ter; die dort angekleidet und stock­steif mit geschlossen­en Augen steht, ihr Gesicht ohne Emo­tion. Das Mäd­chen hinge­gen voller Furcht – denn im Vorder­grund auf dem Fußboden kniet ein Mann, der mit entset­zten Gesicht­saus­druck auf seine leer­en Hände schaut wie einst die von Schuld zer­ris­sene Lady Macbeth, auch wenn an sein­en Fin­gern kein Blut klebt. Die beiden weib­lichen Fig­uren sind umrah­mt von einem grün­en Licht, dessen grün­lich­er Schat­ten zum knienden Mann ver­läuft. Die Wände wech­seln zwis­chen zartem lav­endel­far­bi­gen, gift-grünem und einem gleißenden ‚weißen’ Licht, das aus einem Kühls­chrank den Mann anstrahlt. Das Leucht­en des Kühls­chranks wirkt überi­rdisch, wie die gespen­stische Aura eines ungelösten Rätsels.


…Häss­lich­keit muss zur Idee der Schön­heit unbedingt hin­zuge­fügt werden


In diesem Bild steht der Kon­trast an erster Stelle: ein Kon­trast zwis­chen den beiden mitein­ander ver­bunden­en Fig­uren und dem ein­zelnen Mann, zwis­chen ihr­er aufrecht­en und sein­er knienden Hal­tung, zwis­chen ihr­er schat­ti­gen Präsenz und sein­er Nähe zu der Quelle des grel­len Licht­es. ‚Häss­lich­keit ist etwas, das unbedingt der Idee der Schön­heit hin­zuge­fügt wer­den muss’, hat Kala­izis in einem Gespräch gesagt. Und in diesem Bild hat er Schön­heit aus der Giftküche schreck­lich­er Zutaten erschaffen.

In der Stille der Nacht | Öl auf Leinwand | 130 x 150 cm | 2008
In der Stille der Nacht | Öl auf Leinwand | 130 x 150 cm | 2008

Auch In der Stille der Nacht (2008) ist ein gekon­ntes Beis­piel für eine Szene mit unspek­tak­ulären Ele­men­ten, die den­noch den Hauch des Unheim­lichen atmet. Auch dieses Bild führt uns in die Umge­bung von Leipzig. Eine Auffahrt im Vorder­grund des Bildes führt zu einem hölzernen Gebäude, das von einem grel­len Licht erleuchtet ist; womög­lich von Auto­schein­wer­fern? Die Tür ist fest ver­schlossen, als ver­berge sich dah­inter ein Geheim­nis, aber ein rechteckiges Fen­ster aus blauem Licht ist geöffnet. 


Ein junges Mäd­chen sitzt am äußer­en Rand der Fen­s­ter­b­ank, ihr Oberkörp­er ist von ein­er weißen Gardine ver­deckt. Sie wirkt, als würde sie niemanden erwarten, doch der dünne weiße Stoff lässt sie wie eine war­tende Braut erschein­en. Man hat den Eindruck, als bliebe sie im Innern und wäre doch draußen zur gleichen Zeit, bereit für den Beginn eines Aben­teuers. Kala­izis’ Raffi­nesse besteht dar­in, Motive des Über­gangs zu kreier­en, in dem die Fig­uren oft an der Schwelle ein­er soforti­gen Bewe­gung stehen, und doch vor Verz­wei­flung und Starre geläh­mt scheinen. 


…niemals die Wieder­gabe ein­er bloß gese­hen­en Welt


Die üppi­gen Farben har­monier­en in diesem Bild und der sinn­liche Reiz der opu­lent gemal­ten, aus­ladenden Tanne zeugt von der handwerk­lichen Meister­schaft, die Kala­izis als Maler besitzt. Doch obwohl er in der Lage ist, eine foto­grafisch genaue Darstel­lung der Real­ität zu leisten, ist er niemals mit ein­er bloßen Wieder­gabe der gese­hen­en Welt zufrieden. Viel­mehr sucht er den Moment der Ent­deck­ung des Unsicht­bar­en. Den Zugang zu diesem ver­schüt­teten Raum erreicht er durch alleg­or­ische Darstel­lungen und Ima­gin­a­tion. Er ver­wis­cht die Gren­zen zwis­chen Real­ität und Irrealen und wird Schöp­fer sein­er eigen­en Real­ität, dort, wo die Schat­ten wohnen. Diese bewusste Manip­u­la­tion macht seine Kunst sehr anspruchsvoll. 


Es bleibt dem Betrachter über­lasen, unter der Ober­fläche zu kratzen, sich ein­zu­lassen auf im Bild ver­steckte Hin­weise, wie ein Archäo­loge auf der Suche nach ver­gan­gen­en Zivil­isa­tion­en. Man ist ein­ge­laden, die ver­schieden­en Frag­mente zu ein­er vorläufi­gen Deu­tung zusam­men­zuführen, auch wenn die irrealen Spiegel­un­gen und Illu­sion­en sich nie zu ein­er festen Botschaft fügen.
Immer wieder ver­hal­ten sich in sein­er Kunst die For­men, Farben, Lichter, die Fig­uren zuein­ander, sie über­schneiden sich und bilden Gegensätze. Genau dann, wenn man sich kurz vor der Entschlüs­se­lung der Geschichte wäh­nt, ver­schmelzen die Umrisse ihr­er Deu­tung zu lan­gen Schat­ten. Sich­er­heit und Behag­lich­keit lie­gen diesem Maler fern. Seine ans­pruchs­volle Mis­sion ist es, den Betrachter zu motivier­en, eigen­ständig zu den­ken zu füh­len und in ein­en Dia­log mit der Lein­wand zu treten.

Carol Strickland
Carol Strickland

©2008 Car­ol Strick­land | Aris Kalaizis


Dr. Car­ol Strick­land, geb. 1946, fre­is­chaf­fende Kun­stkritiker­in, arbeitet für mehr­ere amerik­an­is­che Zei­tun­gen und Magazine. Sie ver­öf­fent­lichte u.a. mit "The Annot­ated Mona Lisa" (2007) ein Buch der Kun­st­geschichte und Architek­tur. Strick­land ist ver­heir­at­et mit dem Bio­chemiker Sid­ney Strick­land. Sie lebt und arbeitet in New York City

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